Seine Muttersprache beherrscht doch jeder!

Tatsächlich? Das Büro für angewandte Poesie hat anderes beobachtet: ● In Texten häufen sich Buchstabendreher und grammatische Ungereimtheiten, denn Zeitungen, Verlage oder Werbeagenturen sparen sich Korrektoren und Korrektur. ● Mit der Orthografiereform hat der Duden seine sprachpflegende Aufgabe abgeben müssen. Jetzt schustern Elfenbeinturm- und Bürosesselbewohner an den Regeln von Rechtschreibung und Grammatik und reiten dabei mit Vorliebe ihre eigenen Steckenpferde. ● Sprachgeschichte, die zu Zeiten der Gebrüder Grimm zum allgemeinen Wissenskanon gehörte, kommt nicht vor im Unterricht oder im Bewusstsein der Sprechenden. Statt eines komplexen, fließenden Systems sehen viele in der Sprache etwas Ehernes, ewig Gesetztes, dessen Struktur nur wenige Auserwählte durchschauen. Folge: Das Amtsdeutsch mit seinen leblosen Passiv- und Nominalkonstruktionen gewinnt an Stärke. Menschen „werden geboren“, ohne dass ihre Mütter anwesend sind und „versterben“ schließlich an einem „Unfall mit Todesfolge zum Nachteil des Geschädigten“. Wir wissen nicht mehr, wie uns das Maul gewachsen ist. Wir vertrauen blind den Orthografieregeln, die uns die Computer-Rechtschreibprogramme vorgeben und den Sprechnormen der Navigationsgeräte. Wohl bemerkt: Das Poesiebüro will nicht lamentieren über den Niedergang von Kultur und Sprache, die durch Anglizismen, „schlechtes Deutsch“ oder "Fehler" überschwemmt oder durch neumodische Angewohnheiten wie Internet, SMS oder Twitter zerstört würden, wie manche meinen. Im Gegenteil: Das Büro für angewandte Poesie begrüßt freudig jede kreative Wortschöpfung, jeden Newcomer mit Integrationsbedarf, jedes "downgeloaded", „gegoogelt“ und "upgedated". Vielmehr beklagt das Poesiebüro eine zunehmende Achtlosigkeit der Sprache gegenüber. Wie viele Dilettanten segeln fröhlich auf der Wirtschaftsflaute, fädeln leichthin oder im Akkord Worte aneinander und drücken Normen und Preise! Und es beklagt blinde Autoritätsgläubigkeit bei denen, die täglich sprechen, schreiben und hören – uns allen. Das Büro für angewandte Poesie erklärt hiermit: Wir lassen uns nicht mehr einschüchtern von scheinbaren Autoritäten und Regeln! Vertrauen wir unserer eigenen Sprach-Kompetenz! Mut zur Anarchie! Eine so wichtige Angelegenheit wie die Sprache können wir nicht leichtsinnigen Pfuschern überlassen oder kopflastigen Wissenschaftlern. Schluss damit! Nehmen wir die Sprach-Sache selbst in Hand und Mund! Jetzt reden und schreiben wir mit! Wir geben die Sprache denen zurück, denen sie gehört - uns allen. Vor allem jedoch fordern wir: Schluss mit den Hungerlöhnen! Angemessene Bezahlung für alle, die professionell mit der Sprache arbeiten! Und nebenbei, wer beherrscht hier wen: Wir die Sprache – oder die Sprache uns? (Dank an die Weimarer Schreibwerkstatt für Hinweise und Diskussion)

veröffentlicht: Anke Engelmann, Samstag, 05.02.2011

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