Abschied von meinem Füller
Wann habe ich Dich eigentlich gekauft? Oder habe ich dich geerbt, von meinem Bruder oder meinem Vater? Oder hat Dich meine Mutter „gefunden“? Wahrscheinlich warst Du eines Tages einfach da, in einer Schublade mit abgebrochenen Blei- und Buntstiften und leeren Drehbleistiften. Denn du bist älter als alle anderen Schreibmittel, die ich täglich benutze. Naja, da gibt es noch den alten Parker-Füller mit Tintentank. Aber der zählt nicht, denn der ist sozusagen antik. Und er ist zu dick und kratzt.
Antik bist Du jedenfalls nicht. Aber schlank, griffig und leicht. In einen metallenen Zweireiher dezent gehüllt, schwarz mit goldenen Streifen. Das trägt nicht jeder. Und Du liegst gut in der Hand, hinterlässt kaum Druckstellen am Mittelfinger. Auch nicht nach langen Schreibmarathons.
Nie hast du störrisch gekleckst. Nie hatte ich Tinte am Finger – jedenfalls nicht von dir. Deine Feder gleitet wie von selbst über das Papier, hinterlässt eine weiche, breite Spur. Du warst mein Privat-Sekretär. Ich habe Dir vertraut. Lange Jahre durftest Du mir das Tagebuch führen. Das ist eine besondere Aufgabe, eine Vertrauensstellung. Ein Tagebuch-Füller muss zuverlässig sein. Er darf den traurigen und aufregenden Erlebnissen, den Reflektionen, Träumen und Erinnerungen keinen Widerstand entgegen setzen. Er muss die Handschrift stärken, damit man auch nach Jahren alles noch einmal lesen, die Zeit wieder lebendig machen kann.
Der rote Faden in meinem Leben bist du. Obwohl Du mal grün warst und mal schwarz, mal violett, meistens jedoch königsblau. Manchmal bist Du dünn und blass. Manchmal zittrig, knittrig, unsicher, wie im Dunkeln hingeworfen. Manchmal groß und energisch. Manchmal eng und dicht, immer wieder neue Gedanken in Frei- und Zwischenräume gestopft. Und manchmal ist auch was aufs Papier getropft und hat die Schrift verwaschen. Tränen vielleicht oder Tee.
Und jetzt? Ich hoffe, Du kommst ins Füllerparadies. Oder vielleicht wird aus Dir ein neuer Füller gemacht. Einer, mit dem ein Kind schreiben lernt, ein Dichter ein Gedicht schreibt oder einen Roman, eine Liebende einen Liebesbrief. Doch wenn Du bei einem Manager landest von einem Konzern oder einer Bank, einem Unternehmensberater oder einem Politiker. Und der nimmt dich aus seiner Tasche, schraubt Dich auf und setzt an, um mit Dir Kündigungen zu unterschreiben oder Milliardendeals und mit einem Federstrich Existenzen zu vernichten. Dann mein Lieber – darfst du klecksen!
veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 14.03.2012 in Schreiben