Angst auf den avenidas

Um das Gedicht "avenidas" von Eugen Gomringer an der Fassade der ASFH hat sich eine heftige Diskussion entsponnen. Dass sich die Frauen unsicher fühlen auf dem Weg von und zur Uni, wird sich nicht ändern, wenn das Gedicht überpinselt oder in einen erläuternden Kontext gestellt wird.

Um ein Gedicht, das Eugen Gomringer 1951 geschrieben hat, hat sich eine heftige Diskussion entsponnen.

avenidas

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres
avenidas y flores y mujeres y un admirador

ist derzeit (noch?) an der Fassade der Alice-Salomon-Fachhochschule (ASFH) in Berlin zu lesen, wo übrigens auch kreatives Schreiben unterrichtet wird. Das Gedicht soll nun weg, Vorschläge zu einer neuen Fassadengestaltung können bis Oktober eingereicht werden, gab der Akademische Senat bekannt. Die Hochschulleitung hofft, dass die Verse bleiben können, wenn sie in einem erklärenden Kontext stehen.

Erklärender Kontext. Auf einer Häuserwand. Hm. Könnte ein interessantes Projekt werden. Gomringers Gedicht erinnere "Frauen*" "unangenehm daran", dass sie "nicht in die Öffentlichkeit gehen können", ohne "für ihr körperliches Frau*-Sein bewundert zu werden", beschwerte sich der Allgemeine Studierenden-Ausschuss AStA in einem Offenen Brief, "... eine Bewunderung, die häufig unangenehm ist, die zu Angst vor Übergriffen und das konkrete Erleben solcher führt." (sic) Die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz seien vor allem abends "männlich dominierte Orte", an denen Frauen sich nicht wohl fühlen.

Genau. Darüber muss man reden. Dass sich die Frauen unsicher fühlen auf dem Weg von und zur Uni, wird sich nicht ändern, wenn das Gedicht überpinselt oder in einen erläuternden Kontext gestellt wird. Jetzt beschäftigen sich eine Menge Leute mit der Sache, FAZ, Welt, Spiegel, das ganze Feuilleton schüttet Häme aus.

Immerhin, das Gedicht kommt weg. Ist doch ein Sieg, oder? Worum geht es wirklich? Langsam halte ich diese Angst, mit Worten jemanden zu triggern, tatsächlich für einen Scheinkampf. Großer Wirbel, schneller Sieg. Das ist gefährlich, für die Sprache, weil sich bald keiner mehr traut, Klartext zu reden. Und für das, was wirklich erkämpft werden muss: dass Frauen keine Angst mehr haben müssen auf den avenidas.

Hier die deutsche Übersetzung des Gedichtes, auch nach dem AStA:

Alleen

Alleen
Alleen und Blumen

Blumen
Blumen und Frauen

Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer  

Übrigens: Die Form heißt Konstellations- oder Konstruktionsgedicht: Ich wende sie oft beim kreativen Schreiben an. Substantive (möglich sind auch andere Wortarten) und die Konjunktion, die die Glieder kettengleich bindet. Sonst nichts. Ein Wort zieht das nächste nach sich, die Wörter werden einander beigestellt, färben sich gegenseitig und etwas Neues tritt hervor. Das letzte Wort, der letzte Vers ist frei. Macht Spaß!

Nachtrag: Dazu hat Margarete Stokowski (danke Rüdiger für den Hinweis) im Spiegel eine kluge Kolumne geschrieben

veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 06.09.2017

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