Coronista

Im ersten Lockdown

Kein Corona-Tagebuch. Keine Glosse über Hamsterkäufe. Kein ABC-Darium mit Aufzählungen, was mir alles (nicht) fehlt, wie die Gesellschaft umdenken muss und dass nichts mehr so sein wird wie vor Corona. Nix über die tapferen VerkäuferInnen und die überlasteten Krankenschwestern, ÄrztInnen und AltenpflegerInnen. Keine Dys-, keine Utopie. Nix über bedingungsloses Grundeinkommen. Nein, ich strecke mich in der sozialen Hängematte aus (Arbeitslosengeld!), arbeite nach und nach alle Arbeit ab, die sich angesammelt hat (Wahnsinn! Was für ein riesiger Berg!), gehe jeden Tag spazieren, manchmal sogar mitten auf der Straße, ich mache Sport und backe Brot, jetzt wo es wieder Mehl gibt, und betrachte mit großer Freude und Zufriedenheit unsere Klopapiervorräte.

Corona macht mir keine Angst – der Tod gehört zum Leben. Aber vieles, was gerade passiert, beunruhigt mich. Zum Beispiel, dass der Vater einer Freundin ganz allein im Pflegeheim sterben musste, seine Angehörigen und sogar seine Ärztin ihn in seinen letzten Stunden nicht besuchen, ihm beistehen und Abschied nehmen durften. Die Gleichgültigkeit den Menschen gegenüber, die auf Lesbos oder in anderen Lagern ausharren müssen. Angst macht mir, wie fragil sich Gewohntes, bisher scheinbar Unzerstörbares, erweist. Dass ein großer Teil unserer Wälder einen weiteren trockenen Sommer nicht überleben und der Klimawandel Nordeuropa wahrscheinlich in eine Steppe verwandeln wird, und dass das vielleicht schon im nächsten Jahr sein wird. Dass nach den Amseln jetzt auch die Meisen eine Krankheit haben sollen, die den Bestand dezimiert. Und dass trotz alldem gesunde Bäume gefällt und Glyphosat versprüht und die Massentierhaltungen fortgeführt und Flugzeuge und Autoverkehr nicht auf ein Minimum reduziert werden – das macht mir Angst.

veröffentlicht: Anke Engelmann, Donnerstag, 16.04.2020

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