Der Ton macht die Musik

Gestern habe ich ein Schreiben vom Jobcenter bekommen und bin total aufgebracht. Dieser Ton! Sofort habe ich mich gefühlt wie ein Kind, das ausgeschimpft wird, weil es sehr sehr böse war. Wer entwirft die Textbausteine für solche Schreiben? Wem bricht ein Zacken aus der Krone bei einem (wie heißt das Zauberwort) "Bitte"?

Ich muss eine Summe zurückzahlen, das steht seit zwei Wochen von Rechts wegen fest und ich habe nur auf den Bescheid vom Jobcenter gewartet, auf dem die Daten stehen. Der kam nun und er ist folgendermaßen formuliert (arrrgh!)

Zahlungsaufforderung

Sehr geehrte Frau E., Sie haben bis zum 1. September 2017 einen Betrag in Höhe von ... unter Angabe von ... und Verwendung folgender Bankdaten zu überweisen (...)

Die Konstruktion heißt "modaler Infinitiv". Beim Institut für deutsche Sprache Mannheim habe ich dazu folgendes gefunden: "haben zu (...) Die Verben bzw. Prädikatsausdrücke, auf die es angewendet wird, bezeichnen in der Regel Handlungen oder auch Prozesse und Zustände, die durch menschliche Handlungen beeinflusst, herbeigeführt oder durch Menschen verfügt werden können, vgl.: Ein Kind hat die Anweisungen der Eltern zu befolgen. Das Fenster hat immer offen zu sein. Diese Regel hat einfach zu stimmen. Sporadisch können sie jedoch auch Prozesse und Zustände bezeichnen, die von menschlichen Handlungen und Intentionen weitgehend unabhängig sind, vgl. etwa: Das Kind hat zu wachsen." (Zitat Ende)

Hä? Ähm, liebe KollegInnen vom IDS: Bei mir kommt da was anderes an. Ein Befehl zum Beispiel oder eine Anweisung. Weil der Anweisende unsichtbar bleibt, haben sie eine Anmutung von universaler Geltung und man kann sich ihnen nur schwer entziehen:

"haben + zu + Infinitiv" "Du hast die Klappe zu halten!" (=Schnauze!) "Ein Kind hat seinen Eltern zu gehorchen!" (=so steht es in der Bibel und so bleibt es in alle Ewigkeit)

"sein + zu + Infinitiv: "Den Anweisungen des Personals ist unbedingt Folge zu leisten." (=Schalten Sie Ihr Gehirn aus und latschen Sie dem Käpt'n/Lokführer/Uniformierten hinterher)

"Du hast hier nichts zu sagen" hätte zwei Interpretationen:

1. (Frage:) "Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen? (Antwort:) "Nein, ich habe nichts zu sagen." (modaler Hintergrund: wollen)

2. (Einwand:) "Aber ..." (Gegenrede:) "Halt die Klappe. Du hast hier nichts zu sagen!" (modaler Hintergrund: dürfen)

Was ist das für ein Beiton? Wo kommt der her? Gefunden habe ich dazu nicht viel. Wäre ein schönes Thema für eine wissenschaftliche Arbeit, liebe SprachwissenschaftlerInnen: "Der Gebrauch des modalen Infinitivs im Amtsdeutsch der deutschen Gegenwartssprache und seine modalen Implikationen. Untersuchung anhand der Kundenkorrespondenz der Jobcenter"  Bitte, bitte, gern geschehen.

veröffentlicht: Anke Engelmann, Freitag, 18.08.2017 in Gutes Deutsch, Politisches

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