Die Second-Hand-Welt der Literatur

In einer unbezwingbaren Gier stopfte ich Buchstaben und Geschichten in mich hinein, seit ich lesen, seit ich Worte, Sätze, Texte, Bücher erfassen konnte.

Lesesüchtig. Ich war lange Zeit lesesüchtig. In einer unbezwingbaren Gier stopfte ich Buchstaben und Geschichten in mich hinein, seit ich lesen, seit ich Worte, Sätze, Texte, Bücher erfassen konnte. Weihnachten 1973, in der ersten Klasse, begann ich, mich systematisch durch den Bücherschrank meiner Eltern zu fressen. Denn die winzigen Trompeter-Büchlein, die reich bebilderten Märchenschwarten aus dem Kinderbuchverlag, die mir meine Großmutter schenkte, die kindgerechten Tier- und Bastelbücher, hatte ich schnell durch.

Es war, als ob ich ein bodenloses Loch stopfen wollte, einen schwarzen Brunnen, einen unstillbaren Heißhunger. Kaum etwas war vor mir sicher, ich schlang alles hinunter: Opernführer, Tolstoi, Brecht, Busch, Couplets der Zwanziger, das Narrenschiff, Mark Twain, Raven, die Brüder Grimm. Wilhelm Busch. Schnell entdeckte ich, was meine Eltern vor mir in der zweiten Reihe zu verbergen suchten: das Decamerone, die tolldreisten Geschichten Balzacs, die Krimis der DIE-Reihe. Ich hatte Alpträume nach der Lektüre von drei Bänden Pfeifferscher Gerichtsberichte und las trotzdem weiter. Ich schmökerte mich durch zwölf dicke Meyer-Lexika und dem Gesundheitslexikon. Ich verschlang vergilbte Reclam-Heftchen und fraß mich, ohne zu stocken, durch in Fraktur geschriebene Reiseromane von Sven von Hedin oder Kurzgeschichten von Karl May.

Die marxistischen Theoretiker verschmähte ich, ebenso wie die Kriegsbücher meines Vaters - nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Doch ich verlor mich lieber in den Abenteuern der Kompass-Reihe, liebte den ungarischen Freiheitskämpfer Kapitän Tenkes. Eine Zeitlang galten all meine Gedanken Nikolai aus „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (hieß er wirklich so?), später begehrte ich mit Inbrunst zu sein wie Christoph Columbus. Der musste dem Renaissance-Arzt Andreas Vesal weichen, dessen Gestalt vor dem Indianerjungen Harka verblasste, der mit seinem dem Alkohol verfallenem Vater bei den Weißen lebte, und später seinen Stamm, die Sioux (ich sprach jeden Buchstaben einzeln aus) in die Freiheit nach Kanada führte. Die bunte Welt der Bücher zog mich aus meiner eigenen Realität, die vielleicht schmerzhaft war und unzureichend.

Meine Mutter förderte meinen Lesedrang. Wenn ich las, war ich von der Hausarbeit befreit. Nur manchmal fand sie, ich müsse mehr Kind sein und scheuchte mich aus meiner Höhle hinunter auf den Hof zu den anderen Kindern. Ich erinnere mich an einsame Gedankenspiele und verträumte Entdeckungsreisen. Ein Kreideklumpen, den ich mit einem Stöckchen aushöhlte, bis er zerbrach - ein diffuser Traum von einer Höhle für die kleine Donald-Duck-Figur aus Plaste, deren blau-gelbe Farben verblasst und abgegriffen waren. Ich verkroch mich im Haselstrauch oder in dem schmalen Gang zwischen den Garagen, wo es nach Urin roch, um meinen Träumen ungestört nachzuhängen. Einmal habe ich die Plastik-Armbanduhr eines Mädchens zerbrochen, die auf dem Nachbarhof spielte. Sie hieß Sabine. Lange habe ich mich nicht auf den Hof getraut, aus Angst, sie könnte Geld von mir fordern.

Sicherer fühlte ich mich in der Second-Hand-Welt der Literatur. Da konnte nichts kaputt gehen, niemand über mich lachen, etwas fordern von mir. Da lag Futter für meine Phantasien, in denen ich mit übermenschlichen Anstrengungen ganz allein Unmögliches vollbrachte, um am Ende endlich glücklich zu sein, die anderen zu beeindrucken. Mir Glück zu verdienen. Und, wichtig: ich konnte selbst über den Weg dahin bestimmen. Heute frage ich mich: Wen wollte ich beeindrucken?

Den Bestand der Bibliotheken hatte ich schnell durch. Eine Zeit lang schmökerte ich in Literatur-Lexika und stellte mir lange Leselisten zusammen. So fand ich zu Kobo Abe, Saul Bellow, Max Frisch. Auch wenn ich klamm bei Kasse war - für Bücher reichte das Geld immer. Ich kaufte wahllos alles, was billig war: Reclambücher, die in der DDR zwei bis drei Mark kosteten, Romanzeitungen für 80 Pfennige. Bei teureren Büchern war ich wählerischer, aber nur unwesentlich.

Mein Verbrauch war hoch: Bis zu zwei Bücher täglich konnte ich wegschmökern, vor den Augen meines Meisters, die Füße auf die Nähmaschine gelegt, bis mir der Hintern weh tat. Meist kaufte ich mein Futter am Zeitungskiosk, der direkt vor der Werkstatt war. Ich entdeckte mittelalterliche Texte, an denen mich das Märchenhafte und die vagen Wortbedeutungen faszinierten. Ich entdeckte die Verrückten, Unangepassten: Flann O'Brien, Kurt Vonnegut, E.T.A. Hoffmann, Lewis Carroll. Ich besorgte mir Werke von Franz Fühmann, Gabriele Wohnmann, Margaret Atwood. Fasziniert von der Romantik, den Gescheiterten durch die Funkessays von Arno Schmidt: Ludwig Tieck, Karl Philipp Moritz, Grabbe, Wezel.

Die Ring-Trilogie von Tolkien verschlang ich wie eine Phyton. Unwichtiges würgte ich aus. Die drei Bände schaffte ich in nicht einmal zwei Tagen. Ein Loch in der Zeit. Ich schlief nicht, ich aß nicht, ich redete mit niemandem. Während ich las, rauchte ich, bis mir schlecht wurde. Gönnte mir kaum Zeit, einen Kaffee zu kochen. Weiter! Weiter! Ich erinnere mich an die Enttäuschung, als ich das letzte Buch schloss. Mein Nacken schmerzte, ich war müde. Am liebsten hätte ich gleich noch einmal von vorne angefangen. Später las ich nur noch Krimis, Geschichten mit einem Hauch Kitsch, in denen ein bitteres Geheimnis gelöst wird und die Welt wieder ins richtige Lot kommt.

Inzwischen hatte ich eine beachtliche Menge an Büchern angesammelt, ich fand, dass nichts ein Zimmer besser schmücke als eine Bücherwand. Ich hatte sie alle gelesen, konnte nicht eines davon weggeben. Mehr als 300 Krimis hatte ich angehäuft, als ich die Sammlung auflöste und an einen Krimiladen verkaufte. Die Krimi-Zeit war vorbei. Mein Appetit hatte sich verändert. Ich gierte nach Ratgeber-Büchern.

Bis dahin hatte ich um die Regale mit der Lebenshilfe-Lektüre einen Bogen gemacht. Ich fand, dass solche Literatur Betrug sei, zu subjektiv, fehlbar, gefährlich. „Du-Bücher“, voll seifiger Lebensweisheiten und Ratschlägen von Sekten-Gurus. Die einen verletzlich machten, mit Gefühlen manipulierten. Dann hatte ich plötzlich ein unscheinbares Taschenbuch mit den Lebensgeschichten erwachsener Alkoholiker-Kinder in der Hand. Ich wusste sofort - ich musste es kaufen. Das Buch gehörte zu mir. Es würde mein Leben verändern. Verschämt legte ich es mit der Titelseite nach unten auf den Kassentisch. Die Verkäuferin lächelte wissend, wie mir schien. Ich blieb cool, wand mich innerlich vor Verlegenheit. Rechtfertigte mich in Gedanken, dass ich es verschenken wolle. Es nicht für mich sei.

Es war für mich. Kein „Du-Buch“. Es spuckte keine Ratschläge aus, sondern schilderte meine Erfahrungen, aus dem Erleben fremder Menschen. Ich fand mich eins zu eins in deren Realität. War gebannt. Weinte. Die Tränen flossen einfach aus mir heraus, ohne dass ich schmerzhaft schluchzen musste. Als ich diese Geschichten las, kam etwas ins Fließen. Stürzte ein. Was für eine Erleichterung. Ich musste nicht kämpfen. Ich begriff, welch unlösbaren Aufgaben ich mir gestellt hatte. Ich trauerte um diese Verschwendung. Nicht meine Schuld. Nichts hätte ich tun können.

Ratgeberbücher gehören zu den Vergewisserungsmitteln, den Spiegeln. Sie zeigen, was ich empfinden soll. Sie bieten Anhaltspunkte, Wegmarken für die Suche nach dem Ich. Die Frau, die zu sehr liebt, bin ich. Ich kenne die Verletzungen auf den vier Ebenen der Kommunikation. Ich entdecke eine, meine, ganz spezielle Grundform der Angst. Ratgeberbücher sind ein Koordinatensystem, wenn ich weiß, wonach ich suchen muss. Und das Wissen, nicht die Einzige zu sein, entlastet und entspannt. Kein angeborener Charakterfehler, wenn ich mich in der Welt fremd fühle. Auch andere sind unglücklich und einsam. Ich bin nicht schlecht. Und wenn jemand mich in meiner Einzigartigkeit verletzt und kränkt, ist das nicht meine Schuld, sondern ein Angriff, gegen den ich mich zur Wehr setzen muss. Verdammt noch mal!

Ich habe lange gebraucht, bis ich an mir das annehmen konnte, was vom Durchschnitt abweicht, was verhindert, dass ich unsichtbar bin, dass mich die anderen immer toll finden. Die Unwucht, das Unrunde. Die Ecken, die hervorstehen, an denen ich immer anstoße. Sie abzuschleifen ist ein Akt der Selbstverstümmelung, die Nägel schneiden und dabei die Fingerkuppen gleich mit, Millimeter für Millimeter. Im Dauerschmerz schwindet die Beweglichkeit und die Fähigkeit, beherzt zuzupacken.

Das Lesen hat den Schmerz der Anpassung gelindert. Als ich so viele fremde Leben lebte, war mein eigenes undeutlich. Was die Gegenwart mir schenkte, war nur ein Vorgeschmack auf das Paradies und ich – immer schon einen Schritt weiter, immer in Eile - zur Unzufriedenheit verdammt. War das wirklich alles? Ich lese wieder, doch nur noch selten. Kann nicht mehr schlingen. Zu viel, zu grausam, zu zynisch. Zu arrogant, zu viel Distanz, zu wenig achtsam. Jede Welt zwischen zwei Buchdeckeln ergreift mich unmittelbar, schmeckt, riecht, lärmt. Färbt mein Erleben, meinen Alltag. Manchmal kommen mir die Tränen. Vieles bedrückt mich. Ich spüre. Wie anstrengend. Das ist. Das Lesen. Das Leben.

veröffentlicht: Anke Engelmann, Sonntag, 11.09.2011

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