Fallbeil

Nicht umsonst ermahne ich die TeilnehmerInnen meiner Kurse, die Werke der anderen respektvoll und mit Vorsicht zu kritisieren. Das bedeutet, mit einem Lob zu beginnen und, was stört oder irritiert, als Ich-Botschaften zu formulieren. Bemerkungen wie: »Alles voller Fehler! Und das hier, das geht überhaupt nicht. Total falsch!«, treffen unglaublich tief, wenn das Baby frisch geschlüpft ist.

Da sind beide, SchöpferIn und Geschaffenes, dünnhäutig, schwach und verletzlich. Sowas ist mir gestern passiert, das hat mich die ganze Nacht wachgehalten und mir ist wieder einmal bewusst geworden, wie wichtig der Grundsatz ist: Das Werk ist zu loben! In jedem Fall! Auch wenn es nicht gefällt, hat man zurückzutreten, sich einzufühlen, zu bemerken (und zu erwähnen), was alles drin steckt.

Und was alles drin steckt in einem kreativen Produkt! Man denkt lange über eine Sache nach, entwickelt eine Idee, ganz behutsam erst, dann immer sicherer. Irgendwann gibt es kein Zurück mehr, die Arbeit, dein Projekt, nimmt dich ein, überschattet dein Leben, absorbiert dich, Wochenenden gehen drauf und ausgeschlafen hast du schon lange nicht mehr, und eigentlich müsstest du mal wieder ...

Als würdest du einen Kontinent queren mit dem schutzlosen Wesen auf deinem Arm, Gipfel besteigen, gegen wilde Tiere und Ungeziefer kämpfen und eigene Körperteile vor Hunger verzehren. Und dann kommst du abgekämpft und verfilzt und verlaust mit dem zarten Ding aus dem Urwald und du stehst in der Sonne und staunst und fragst dich: Hat sich all das gelohnt? Das kleine Wesen scheint so perfekt, durchscheinend noch, aber wirklich. Doch ist alles richtig an ihm?

Die anderen aber sind mit dem Bus gefahren, sitzen angeschickert an der Kaffeetafel und empfangen dich mit den Worten: »Na? Auch schon da? Was hast’n da für’n Scheiß?« Das Fallbeil. RUMMS! Wie man mit sowas umgeht? Ich hab mein Werk erstmal weggelegt. Kann sein, dass es überlebt.

veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 29.04.2015

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