Poesieblog

  • Gender live

    Neulich bei der Tierärztin: "Sind Sie heute die Schwester?"

    "Ja", sagte der Pfleger und errötete leicht.

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Dienstag, 10.11.2015 in Gender

  • Papierkorb oder Schatzkiste?

    Mein Rechner ist voll mit angefangenen und nie fertig gestellten Geschichten, Skizzen, Beschreibungen, Situationen. Lange Zeit habe ich mich deshalb schlecht gefühlt, eine Versagerin.

    Wahrscheinlich bin ich zu faul, habe zu wenig Disziplin, Phantasie, Zeit oder Geld und überhaupt bin ich keine »richtige« Schriftstellerin, denn die sehen sofort, ob Potenzial in einer Geschichte steckt, und vergeuden nicht unnütz ihre Kraft. Oder beim Schreibseminar in Wolfenbüttel, als wir über unser Schreiben nachdenken sollten. »Ich sichte zuerst meine halb fertigen Sachen«, habe ich gesagt. »Manchmal entdecke ich plötzlich das andere Ende einer Geschichte.«

    Die anderen haben vielleicht komisch geguckt. Verständnislos. Die ziehen immer jede Menge guter Einfälle aus dem Hut, ein ganzes Feuerwerk kreativer Ideen. Und ich? Wühle im Abfall! Dabei lese ich oft in meinem Steinbruch-Ordner herum und denke: Wow! Das ist gut! Das würde ich gern mal verwenden! Und immer öfter klappt das auch: Ich arbeite an einer Sache, ein Thema verdichtet sich beim Schreiben, ich denke: »Moment, da hatte ich doch was!« Und siehe da, ein bisher ungerichteter, schwebender Text passt sich nahtlos ein wie ein Puzzle-Stück.

    Heute weiß ich: Es gibt keinen Abfall. Das sind Schätze! Intuitiv habe ich alles richtig gemacht: gesammelt! Ich hatte nur eine falsche Vorstellung übers Schreiben. Inzwischen habe ich eine Schatzkiste, nur für die losen Diamanten, die ich an passenden Stellen einfügen kann und die die Geschichten zum Funkeln bringen.

    Literatur-Tipp: Hanns-Josef Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren. Mannheim, Dudenverlag 2012

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Dienstag, 22.09.2015 in Schreiben

  • Das, dass, daß und der Sprachwandel

    Das ß wurde oft tot gesagt und hat doch überlebt. Dass (Das?) das deutsche Alphabet einmal in Schreib- und Druckschrift zwei kleine S unterschied, weiß heute kaum jemand, und so hat das ß eine Umdeutung erfahren: aus zwei wurde eins.

    Ob ich Probleme hätte, wenn alle Beiträge der Anthologie in der alten Rechtschreibung abgedruckt würden – also auch meiner, fragte ein Verleger, dem ich einen Text eingereicht hatte. Zwar schriebe ich sowieso vieles nach der alten, doch Eingriffe in meine Orthografie lehnte ich grundsätzlich ab, antwortete ich und fragte nach: Ob z.B. in der Ausgabe die Konjunktion »dass« oder andere Worte mit kurzem Stammvokal (Schluss, Stuss, muss) mit »ß« geschrieben würden?

    »Wir schreiben grundsätzlich daß«, schrieb der Verleger zurück, »wir haben ebenfalls klare Vorstellungen was ›richtig‹ ist«.

    Hiermit möchte ich betonen - Ich habe keine klaren Vorstellungen, was »richtig« ist. Im Gegenteil: Kategorien wie »richtig« oder »falsch« lehne ich für die Sprache ab. Ich entscheide, was ich für sinnvoll halte und dann schreibe ich so. In Seminaren, bei Lektoraten oder auf meiner Homepage biete ich mein Sprachwissen an. Keinesfalls würde ich anderen meine »Vorstellungen« aufzwingen, wenn ich merke, sie wissen, wovon sie schreiben.

    Sprachliche Regeln sind sinnvoll, denn sie dienen der Verständigung, vor allem, wenn sich alle nach demselben Regelsystem richten. Aber Regeln sind starr und die Wirklichkeit überholt sie. Immer! Deshalb müssen sie hinterfragt, und, wenn sie keinen Sinn mehr machen, gebrochen werden – denn von allein ändert sich nix. Regelverstöße müssen für mich sinnvoll sein und gut begründet werden, wer die Regeln überwinden will, muss sie kennen.

    Wir Berufs-SchreiberInnen haben eine besondere Verantwortung zur Sprachpflege. Ein »Das ist richtig so« (meint: ich richte mich nach einem Regelsystem, das u.U. starr und unbeweglich ist und das ich nicht hinterfragt habe) würde ich, z.B. als Korrektorin, nicht gelten lassen. Wenn ein Verlag so argumentiert, finde ich das – nunja – erschreckend. Sprachwandel folgt Gesetzen, und die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.

    Das ß stammt aus einer anderen Schreibepoche und wird heute anders interpretiert als damals, nämlich als ein Buchstabe. Tatsächlich ist es ursprünglich ein Doppelbuchstabe und entstand aus der deutschen Schrift, die vor über 70 Jahren (1941) abgeschafft wurde. (Hitler nannte die deutsche Schrift übrigens abfällig »Schwabacher Judenlettern«, nehmt DAS, ihr Frakturfreunde und »Tod-allen-Kinderschändern«-Nazis!). Heute hat das ß vor allem einen Lautwert (scharfes S) und wird nach langen Vokalen (z.B. Diphthongen) z.B. am Wortende geschrieben: ich weiß, heiß.

    Auch die letzte Rechtschreib-Reform ist schon wieder mehr als zwei Jahrzehnte her (1995). Damals hatte man zunächst dafür plädiert, das ß ganz abzuschaffen, im Englischen (oder anderen Sprachen) komme es nicht vor, so das Argument. Doch das ß ist immer noch da. Sprachwandel eben. Einige der ehemals strikten Regeln sind aufgeweicht und der Schriftgebrauch hat sich dem Sprachgefühl angenähert – zum Beispiel bei der Konjunktion »dass«, wo der kurze Stammvokal inzwischen regelhaft mit Doppelkonsonant gekennzeichnet wird. Das hat sich eingebürgert, und ich finde das gut.

    Warum allerdings der Artikel »das« mit einem »s« geschrieben wird, leuchtet mir nicht ein. Auch wenn bei häufig verwendeten (stark frequentierten) Wörtern Ausnahmen oder Unregelmäßigkeiten eher toleriert werden als bei seltenen.

    (Anmerkung: Warum bei diesem Wort die Kennzeichnung der grammatischen Funktionen, nämlich »dass« als Konjunktion: »Ich sehe, dass das Haus an der Ecke steht«, und »das« als Artikel/Relativpronomen »Ich sehe das Haus, das an der Ecke steht«? Unnötig kompliziert! Für Schnell- und Vielschreiber ist die Trennung von »dass« und »das« eine ständige Fehlerquelle. Auch für mich – und ich kenne die Regeln! Logischer und einfacher wäre, beide Wortarten gleich zu scheiben und zwar (kurzer Stammvokal) mit Doppel-S (»dass«). Anmerkung 2: Allerdings müsste dann auch ess (statt es) oder mann (statt man) geschrieben werden. Ersteres kommt bestimmt irgendwann, letzteres ganz sicher nicht. Anmerkung 3: Die Variante: »Ich sehe, das das Haus an der Ecke steht« ist mir sympathischer. Das Doppel-S ist die sehr spezielle (= markierte) Form und die LeserInnen würden das Wort zuerst als Konjunktion interpretieren, auch wenn nur der Artikel steht.)

    Die Geschichte des »ß« Seit ihrer Abschaffung 1944 wird die (alte) deutsche Schrift nur noch vereinzelt geschrieben. Dass (Das?) das deutsche Alphabet einmal in Schreib- und Druckschrift zwei kleine S unterschied, weiß heute kaum noch jemand, und so hat das ß eine Umdeutung erfahren: Aus zwei wurde eins. Nur so konnte das ß überleben. Entstanden ist es aus der Ligatur (Verschmelzung) zweier Buchstaben, also als Doppelkonsonant. Genauer gesagt flossen zwei unterschiedliche kleine S zusammen, nämlich: ʃ und ɕ. (Deshalb gibt es das ß bislang nur als kleinen Buchstaben).

    Eine Ligatur diente der Verkürzung und funktionierte nur, wenn die Buchstaben tatsächlich in der entsprechenden Reihenfolge standen. Und das war nicht immer der Fall. Und jetzt folgt exklusiv die Erklärung, wann man in der deutschen Schrift welches S benutzt hat. Gefunden habe ich das in: Helmut Delbanco: Schreibschule der deutschen Schrift, herausgegeben vom Bund für deutsche Schrift und Sprache e.V. (2014, 9. Auflage):

    ɕ (das End-S) stand am Wortende, am Ende eines Teilwortes und vor Nachsilben wie -lein, -chen, -haft, -bot, -heit, und -lich, weil diese sinntragenden Nachsilben als Teilwörter galten. Das ʃ stand überall, wo das End-S nicht stand, also: - am Wort- und Silbenanfang, - im Inneren eines Wortes (z.B. auch in Buchstabenkombinationen wie -sch-, -sp-, -st-) Die Kombination [ʃɕ] stand demnach, wenn das zweite S ein Wort oder Teilwort abschloss: Faʃɕ, Kuʃɕ, ich muʃɕ, Imbiʃɕbude, ich saʃɕ, miʃɕ-achten, Gewiʃɕ-heit, daʃɕ, Täʃɕ-chen, eʃɕ-bar, häʃɕ-lich (heute: Fass, Kuss, ich muss, Imbissbude, ich saß, missachten, Gewissheit, dass, Tässchen, essbar, hässlich) Und: Für [ʃɕ] durfte in der deutschen Schrift immer ß geschrieben werden.

    Wie gesagt: Das ist unglaublich lange her. Geschrieben wurde damals mit einer Feder, die in ein Tintenfass getunkt wurde, auch Schreibmaschinen existierten bereits. Die Kinder lernten auf Schiefertafeln schreiben. Füller mit Tintenpatronen, Kugelschreiber oder gar Computer waren nicht in Sicht. Kaum vorstellbar. Meinen Text habe ich übrigens zurückgezogen. Aber gut, das wir drüber geredet haben. Und schön, das, dass und daß die Sprache so bunt sein kann.

    Noch eine Literaturempfehlung zu dem Thema: Frank Müller: ß. Ein Buchstabe wird vermisst. Eichborn-Verlag, Frankfurt a.M., 2008

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Sonntag, 02.08.2015 in Gutes Deutsch, Schreiben

  • der opportunist

    ich habe extra alles kleingeschrieben, damit man sieht, dass es ein gedicht ist ...

    formfehler

    wer bin ich?
    sei einfach du selbst!
    ich bin, wie ich bin!
    – und er passte sich
    den unangepassten
    an.

    doch seine anpassung
    passte ihnen nicht,
    und ins unangepasst-sein
    passte er nicht rein.
    also drückte er sich

    beide augen zu.
    schnürte sich,
    engte sich,
    zwängte sich
    ins erdreht verstellte leben.

    und zwischen ich und über-ich
    verpasste er sich.

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Samstag, 18.07.2015 in Politisches

  • Fallbeil

    Nicht umsonst ermahne ich die TeilnehmerInnen meiner Kurse, die Werke der anderen respektvoll und mit Vorsicht zu kritisieren. Das bedeutet, mit einem Lob zu beginnen und, was stört oder irritiert, als Ich-Botschaften zu formulieren. Bemerkungen wie: »Alles voller Fehler! Und das hier, das geht überhaupt nicht. Total falsch!«, treffen unglaublich tief, wenn das Baby frisch geschlüpft ist.

    Da sind beide, SchöpferIn und Geschaffenes, dünnhäutig, schwach und verletzlich. Sowas ist mir gestern passiert, das hat mich die ganze Nacht wachgehalten und mir ist wieder einmal bewusst geworden, wie wichtig der Grundsatz ist: Das Werk ist zu loben! In jedem Fall! Auch wenn es nicht gefällt, hat man zurückzutreten, sich einzufühlen, zu bemerken (und zu erwähnen), was alles drin steckt.

    Und was alles drin steckt in einem kreativen Produkt! Man denkt lange über eine Sache nach, entwickelt eine Idee, ganz behutsam erst, dann immer sicherer. Irgendwann gibt es kein Zurück mehr, die Arbeit, dein Projekt, nimmt dich ein, überschattet dein Leben, absorbiert dich, Wochenenden gehen drauf und ausgeschlafen hast du schon lange nicht mehr, und eigentlich müsstest du mal wieder ...

    Als würdest du einen Kontinent queren mit dem schutzlosen Wesen auf deinem Arm, Gipfel besteigen, gegen wilde Tiere und Ungeziefer kämpfen und eigene Körperteile vor Hunger verzehren. Und dann kommst du abgekämpft und verfilzt und verlaust mit dem zarten Ding aus dem Urwald und du stehst in der Sonne und staunst und fragst dich: Hat sich all das gelohnt? Das kleine Wesen scheint so perfekt, durchscheinend noch, aber wirklich. Doch ist alles richtig an ihm?

    Die anderen aber sind mit dem Bus gefahren, sitzen angeschickert an der Kaffeetafel und empfangen dich mit den Worten: »Na? Auch schon da? Was hast’n da für’n Scheiß?« Das Fallbeil. RUMMS! Wie man mit sowas umgeht? Ich hab mein Werk erstmal weggelegt. Kann sein, dass es überlebt.

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 29.04.2015 in Schreiben

  • Brettert vorbei und brüllt mich vom
    Damm ich pralle zurück ich
    fa... ich fal-
    le – LUFT!
    Krokusveilchenmärzenbecher
    Weidenkä...
    hä...
    hä...
    Grillanzün...
    Tschi! Tschi! Tschi! Tschi!

    Ach.
    einmal noch umdrehn,
    gemächlich der Sonne entgegen
    treiben – mäandern in Schatten und Licht.
    Ein bisschen noch hält meine Winterhöhle dicht,
    ein biss... ein biss...
    Ha. Ha.

    Mich drückt ein Ich-weiß-nicht-was.
    Es rast. Um mich. Es kitzelt. Es
    ist gar nicht lustig.

    Ha. Haha. Tschi! Tschi! Ha-Tschi-Hi-Hi!

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Donnerstag, 09.04.2015 in Wege durch die Stadt

  • Seifenblasen in Pappmaché

    Schreiben ist, wie Seifenblasen zu umkleiden. Ich halte das Gebilde fest und trage behutsam Schicht um Schicht auf. So wird die Welt real, indem ich umhäute und stabilisiere.

    Ein Buch zu schreiben ist eine völlig unsoziale Angelegenheit. Man wird zum Eigenbrötler. Jeder Impuls, der zu stark ist, vertreibt die fragile Welt, die gerade entsteht und nur eine Gedankenblase ist. Am Anfang habe ich eine Ahnung, ein Gefühl, sehe in den Augenwinkeln eine Farbe, oder - hört sich esoterisch an - einen Energieball. Ich halte das Gebilde fest und trage behutsam Schicht um Schicht auf. So wird diese Welt real, indem ich umhäute und stabilisiere. Als Kind habe ich Luftballons mit Pappmaché umkleidet. Daran muss ich denken: Schreiben ist, wie Seifenblasen zu umkleiden. (Nachtrag am 11.5.2015) Literaturtipp Zu diesem Gefühl passt gut: Hanns Josef Ortheil/Klaus Siblewski: Wie Romane entstehen. München 2008

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 01.04.2015 in Schreiben

  • Schreibfluss

    Wenn ich so richtig im Schreibfluss bin, kann mich nichts rausreißen. Ich rücke so lange auf dem Schreibtischstuhl hin und her, bis mein Hintern sein Nest gefunden hat. Die Sonne scheint? Egal! Gardine zu, dann blendet sie nicht. Jetzt wird geschrieben! Datei ist offen. Spinne mich ein in meine Geschichte. Ganz spezielle Geschichtenluft, meine Nasenflügel zucken, ich setze meine Tunnelbrille auf. Los geht’s.

    Was? Wie? Nein. Ich will keine Änderungen auf meiner Festplatte zulassen. Weg mit dir!

    Also. Wo waren wir? Ah. Toter Punkt. Ich werd ein bisschen ... Scheiße! Dass die immer bei uns klingeln! Waas! Nein. Die wohnen hier nicht. Is grad nicht so ... also gut. Im Hinterhaus. Mann! Mannmann! Bestimmt hat der die Tür offen gelassen. Dass die nie die Tür schließen können. Wenn die Katze auf die Straße rennt. Dann wird sie überfahren. Haben Sie die Tür geschlossen? Achten Sie bitte auf die Katze, ja? Danke. Wiedersehen.

    Wenn ich so richtig im Schreibfluss bin, dann muss ich einfach alles ... Poesiebüro, hallo? Nein danke. Die lese ich schon lange nicht mehr. Und ich habe Ihre Kollegen und Kolleginnen schon mehrfach gebeten, meine Telefonnummer ... Nein. Ich will nicht angerufen werden. Katze! Runter da! Nein, nicht Sie. Bitte rufen Sie mich nicht mehr an! Wiederhören! Miez! Nein, jetzt wird nicht gespielt. Heyey! Hörst du nicht? Mensch, Katze! Brauchst gar nicht eingeschnappt sein!

    Wenn ich so richtig ... Poesiebüro, hallo? Ach, du. Nein. Heute nicht, danke für die Anfrage. Ein andermal gern. Ich habe heute meinen Schreibtag, weißt du? Nein, du hast nicht gestört. Selbst wenn, jetzt wär’s eh zu spät, haha. Ja, ich meld mich. Tschühüss!

    Also. Wo war ich? Schreibfl... Ich würde hier gern eine Metapher finden. Die Szene irgendwie indirekt ausdrücken. Nicht so linear hintereinander weg erzählen. Vielleicht könnte ich erzählen lassen? Als Rückblende? Dann müsste ich ... Könnte funktionieren ... Was? Nein. Ich kann jetzt nicht. Bitte. Hat das nicht Zeit? Du reißt mich gerade voll ... Muss das denn immer sofort sein? Aber das heißt doch nicht, dass ich prinzipiell nicht ... Hey! Warte doch mal! Und ich wische jeden Morgen deine Krümel von der Arbeitsplatte. Jeden Morgen!

    Na und? Ist Schreiben etwa keine Arbeit? Schönen Dank auch! Dass du mich so toll unterstützt! Echt! Jaja. Boah! Heute ist echt der Wurm drin. Mann. Mannmann. Schreibfluss. Und ich hab so wenig Zeit. Also los. Szene. Indirekt. Dann müsste ich das ganze Kapitel ... Schaff ich das? Ah! Genau. Warum habe ich da nicht eher dran gedacht?

    Wo ist denn nur mein ...
    Ohropax, gepriesen sei,
    der dich erfunden hat.
    mein Weltabweiser
    du! Wachs im Ohr die Taucherglocke gleitet
    tief. mein Geist schaut den Fischen
    zu ich kann
    mich
    hören.

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Montag, 30.03.2015 in Schreiben

  • Schreibbericht Teil 1

    Anders als fast alle Schreibratgeber suggerieren, gibt es nicht DIE Strategie, die unweigerlich und in jedem Fall zum Erfolg führt. Aus aktuellem Anlass hier ein Erfahrungsbericht.

    Gerade habe ich ein Stipendium und bekomme drei Monate lang Geld von der Kulturstiftung. Idealer Zustand – Geld nur fürs Schreiben! Ich muss nichts anderes machen! Muss ich aber doch, denn natürlich kann ich mich nicht völlig aus meinem Business rausnehmen: Muss ja dann nahtlos weitergehen mit dem Geld verdienen. Muss, muss muss. Dieses Wörtchen kann einer die Schreiblust ganz schön vermiesen. Bisher habe ich vor allem kürzere Sachen verfasst, ein längeres Werk ist eine völlig neue Erfahrung und auch eine Art Selbstversuch. Heute, am 2. März, bin ich auf Seite 70 und ich habe viel über mich und mein Schreiben gelernt und eine Unmenge falscher Schreibstrategien abgelegt. Wo ich die alle her hatte? Aus Schreibratgebern und Schreibseminaren. Ich kann nur raten: Nehmt nicht alles unkritisch an, was andere euch erzählen. Auch wenn die noch so berühmt oder sympathisch rüberkommen. Anders als fast alle Schreibratgeber suggerieren, gibt es nicht DIE Strategie, die unweigerlich und in jedem Fall zum Erfolg führt. Vor allem beim Plotten hätte ich mir fast die Zähne ausgebissen. Ich hatte schonmal eine Geschichte versemmelt: Der Plot war wirklich wunderbar, fein ziseliert, filigran bis ins letzte Detail. Als ich fertig war, hab ich mir das Ding angeguckt und - die Geschichte weggelegt. Hat mich nicht mehr interessiert. Oder wie ein Dichter mal sagte: Warum das Ding noch schreiben? Ich weiß doch schon, wie’s ausgeht! Schritt für Schritt bin ich dahingekommen, dass ich ohne Plot besser fahre. Das musste ich mir regelrecht erlauben, obwohl das eigentlich logisch ist. Ich wusste schon immer, dass ich meine Geschichten beim Schreiben entdecke und nur wenig vorher plane. Doch das mit dem Plot saß tief. Richtig loslassen konnte ich die Vorstellung erst, nachdem ich die – naja – Autobiografie von Stephen King gelesen hatte: „Das Leben und das Schreiben“. King macht es so ähnlich wie ich: Er lässt sich von seinen Figuren treiben. Hier geht's weiter zu Teil zwei

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Freitag, 27.03.2015 in Schreiben

  • Schreibbericht Teil 2

    Nach der ersten Idee („Was wäre, wenn ...“) denke ich lange über Einzelheiten nach. Meist fallen mir zuerst Elemente zum Setting ein, Situationen, Dialoge. Das schreibe ich alles auf, zunächst mit Hand in meine Kladde. Irgendwann kommt der Punkt, da muss ich mich an den Rechner setzen. Wenn ich den verpasse (und zum Beispiel weiter plotte), wird’s nie was.

    Nach der ersten Idee („Was wäre, wenn ...“) denke ich lange über Einzelheiten nach. Meist fallen mir zuerst Elemente zum Setting ein, Situationen, Dialoge. Das schreibe ich alles auf, zunächst mit Hand in meine Kladde. Irgendwann kommt der Punkt, da muss ich mich an den Rechner setzen. Wenn ich den verpasse (und zum Beispiel weiter plotte), wird’s nie was. Damit habe ich zu Weihnachten angefangen, und obwohl ich jeden Tag ab sieben Uhr morgens geschrieben habe, kam mir das überhaupt nicht vor wie Arbeit sondern wie Urlaub. Das Tolle war nämlich, ich hatte keine anderen Verpflichtungen. Oder nur wenige. Ich durfte schreiben, und das tat ich und kam auf über 40 Seiten. Und dann waren die Feiertage vorbei und ich musste wieder Geld verdienen. Das hat mich völlig in Anspruch genommen, 1,5 Monate habe ich nichts an meiner Geschichte gemacht. Aber ich war zuversichtlich, denn ich wusste: demnächst kommt das Stipendium. Das wird dann wie Weihnachten. Und dann kam das Geld und ich habe zwei Wochen lang Runden gedreht und nichts geschafft. Nichts! Nicht dass ich es nicht versucht hätte! Schließlich habe ich mir alles selbst vorgelesen und das als Hörbuch aufgenommen. Unter Windows ist das relativ problemlos, unter >Zubehör< liegt ein Audiorecorder. Aber irgendwie kam ich von den Bildern nicht in die Handlung, das scheint ein altes Problem bei mir zu sein. Also habe ich zunächst den Anfang immer wieder überarbeitet. Und lustlos und uninspiriert geschrieben. Hier geht's weiter zu Teil drei

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Donnerstag, 26.03.2015 in Schreiben

  • Ich hatte meinen alten Rhythmus wieder aufgenommen, jeden Morgen gegen 7 Uhr saß ich mit meinem frisch gebrühten Kaffee im Schlafanzug am Rechner und hab bis gegen 9 Uhr gearbeitet. Nach Frühstück, Körperpflege usw. habe ich bis mittag Organisatorisches erledigt und die Arbeiten, die sonst so anlagen, und am Nachmittag nach einem kleinen Spaziergang weitergearbeitet. Und das auch am Wochenende. Um mir selbst das Signal zu geben: Achtung! Schreibzeit! Die Urlaubsvariante!, zünde ich immer Kerzen an und lasse Kräuter auf einem kleinen Stövchen verdunsten. Außerdem habe ich mir vorgenommen, meinem Manuskript jeden Tag mindestens eine Seite hinzuzufügen. Aber, wie gesagt: Zu diesem Zeitpunkt flutschte es nicht. Nicht wirklich. In dieser Zeit habe ich meine handschriftlichen Vorüberlegungen in den Computer übertragen und die Personen ausgearbeitet. Dann, eines Tages, kam der Geistesblitz: Eine neue Figur, ein ganz anderer Blick auf die Handlung. Begeistert habe ich in einem separaten Dokument erstmal alles runtergeschrieben und festgestellt: funktioniert nicht. Passt überhaupt nicht rein. Ist eine völlig andere Geschichte. Mist! (wer sich an die Kreativitätstheorie von dem Ungarn mit dem Zungenbrecher-Namen erinnert: Sammeln --> Inkubation --> Aha-Erlebnis --> Bewertung --> Ausarbeitung. Ich hatte gesammelt, es hat geblubbert, dann gefunkt und auf der Bewertungs-Stufe bin ich gestolpert.) In einer anderen Situation, einer optimistischeren inneren Verfassung und nach der Lektüre von Stephen King (siehe oben) hat’s dann plötzlich doch gepasst. Seitdem wächst die Geschichte und wird immer komplexer. Und immer wieder ergibt sich neues, manches muss ich anders fassen und wahrscheinlich ist der ganze Anfang eh Mist. Vermutlich wechseln sich bei mir Kreativitäts- mit Sammelphasen ab. Aktives Tun und passives Geschehen-lassen. Besonders in den Blubber-Phasen ist die Gefahr groß, dass ich aufgebe, weil es scheinbar nicht vorangeht. Hier geht's weiter zu Teil vier

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Mittwoch, 25.03.2015 in Schreiben

  • Anfangsschwierigkeiten wie die unterschiedlichen Perspektiven und die Verschränkung der Handlungsstränge ergaben sich beinahe von selbst. Inzwischen sind einige neue Ideen dazugekommen, die den Blick auf das Geschehen erweitern (es ist tatsächlich, wie auf einen Berg zu steigen). Trotzdem orientiere ich mich im Großen und Ganzen an meinen Vor-Überlegungen, nicht denen der allerersten, sondern einer zweiten Stufe. Erstaunlich! Ich arbeite übrigens mit dem Textprogramm Papyrus und gehe inzwischen so vor, dass ich bei jedem neuen Kapitel zunächst den Inhalt als Geistertext notiere. Ideen lege ich als Notizzettel ab und mit Kommentaren weise ich auf etwas hin, was ich später noch einmal aufgreifen will. Praktische Funktionen! Weniger praktisch finde ich die Datenbanken. Ich arbeite meine Personen lieber in Prosa aus. Vor allem biografische Informationen sind mir wichtig, die lassen sich in einer Maske nicht gut unterbringen. Ob jemand blaue oder braune Augen hat, finde ich weniger wichtig, als das, was einem zuerst auffällt. Zum Beispiel die Körperhaltung, vielleicht eine Geste oder ein Dialekt. Ich habe keine Lust, jedesmal die vorgegebene Maske anzupassen. Schwer fällt mir oft, die abstrakte Idee (den Waschzettel) in konkrete Realität umzusetzen, also die Bilder und Szenen in Fluss zu bringen. Und wahrscheinlich werde ich beim Überarbeiten einige Beschreibungen einfügen müssen, damit der Lesefluss nicht so eintönig strömt. Ich hätte nie gedacht, dass mir ausgerechnet das Beschreiben so dermaßen wegrutscht. Meine Schilderungen wirken statisch, ich ertappe mich oft dabei, die Verben „haben“ und „sein“ zu benutzen, oft muss ich in einem zweiten Schritt alles in Handlung übersetzen. Beim Überarbeiten werde ich nach Formen von „haben“ und „sein“ suchen müssen. Hier geht's weiter zum fünften und letzten Teil

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Dienstag, 24.03.2015 in Schreiben

  • Schreibbericht Teil 5

    Der Plan ist, zunächst die Geschichte in Gänze als Rohfassung aufzuschreiben, dann eine Weile liegenzulassen und erst danach zu überarbeiten. Allerdings werde ich das vielleicht nicht mehr schaffen, denn einige größere Arbeiten klopfen (hämmern) schon an meine Tür.

    Wenn mich etwas sehr bewegt oder beschäftigt, komme ich nicht in die Geschichte. Manchmal hilft es, zu meditieren. Aber spätestens, wenn ich in Tagträume über meine Erfolge und meine zukünftige Rolle als Bestseller-Autorin abdrifte, ist es vorbei mit dem Schreiben. Und wenn ringsum Trubel ist und ich das Gefühl habe, dass ich nicht JETZT! SOFORT! an den Rechner kann, wenn mir etwas einfällt. Der Plan ist, zunächst die Geschichte in Gänze als Rohfassung aufzuschreiben, dann eine Weile liegenzulassen und erst danach zu überarbeiten. Allerdings werde ich das vielleicht nicht mehr schaffen, denn einige größere Arbeiten klopfen (hämmern) schon an meine Tür und es fällt mir schwer, zwischen unterschiedlichen Schreibarbeiten hin- und herzuspringen. Aber ich will das morgendliche Schreiben so weit wie möglich beibehalten. Und ich will weitere Stipendien beantragen. Es ist total schwer für eine entdeckende Schreiberin („discovery writer“) wie mich, zwanzig Seiten so fertigzustellen, dass ich sie einreichen kann. Denn wenn der Text wirklich gut und konkurrenzfähig sein soll, muss die Rohfassung fertig und schonmal überarbeitet sein. Aber dann brauche ich kein Stipendium mehr. Wenn ich drei Monate hintereinander Zeit hätte, ohne umfangreiche andere Aufgaben so wie jetzt, dann käme ich sogar über die Rohfassung hinaus. Ach, wenn doch bald wieder Weihnachten wär!

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Montag, 23.03.2015 in Schreiben

  • Der Schreibprozess nach Ulrike Scheuermann

    Schreibprozessmodell nach Ulrike Scheuermann: Ich fasse hier die Kritik zusammen, die sich für mich aus der Beobachtung meines eigenen Schreibens sowie aus meiner Arbeit als Schreiblehrerin ergeben haben.

    Seit einer Weile beiße ich auf dem Modell des Schreibprozesses herum, das die Schreibtrainerin Ulrike Scheuermann in ihrem Buch »Wer schreiben kann, macht Karriere« vorgestellt hat. Als ich das Modell vor einigen Jahren kennengelernt habe (damals begann ich gerade, mich mit dem Schreiben zu beschäftigen), hat es mich sehr angesprochen. Vor allem die Erkenntnis, dass zum Schreiben mehr gehört als Worte aufs Papier zu bringen, hat mich regelrecht elektrisiert und befreit, denn dass das Schreiben ein Prozess ist, bei dem sowohl vor dem Aufschreiben (Scheuermann: »Rohtexten«) als auch danach noch viel passieren muss, hatte mir nie jemand gesagt. Inzwischen sehe ich die Sache differenzierter. Natürlich liegt es in der Natur eines Modells, stark zu vereinfachen. Meine Kritik, die auf der Beobachtung meines eigenen Schreibens sowie aus meiner Arbeit mit dem kreativen Schreiben fusst, hat allerdings mit dem Modellcharakter nichts zu tun. 1. M.E. geht Scheuermann zu wenig darauf ein, dass jeder Schreibprozess von den individuellen Voraussetzungen der Schreibenden geprägt wird. Vor allem der Schreibtyp beeinflusst die Dauer und Intensität der einzelnen Phasen. Wenn ich von dem Zwei-Typen-Modell ausgehe, das Sch. selbst benutzt (bei ihr: »Planer« und »Drauflosschreiber«, ich nenne die Typen lieber »Outliner«=PlanerInnen und »Discovery Writer«= entdeckende SchreiberInnen) ist klar, dass das Modell nicht universell greift. Bei den PlanerInnen, die viel Struktur und Vorüberlegungen brauchen, passiert die konzeptionelle Arbeit vor dem »Rohtexten«, bei den entdeckenden SchreiberInnen beim Überarbeiten oder gar während des Rohtextens selbst. Nach meinem Eindruck richtet sich Scheuermanns Modell an PlanerInnen, wie übrigens die meisten Schreibratgeber. Weil ich selbst mehr zu der anderen als zu dieser Kategorie gehöre, konnte ich auch mit den weiterführenden Übungen, die Scheuermann anbietet, z.B. den Schreibstreckenplanern, nichts anfangen. 2. Wenn ich zudem den Schreibprozess als kreativen Prozess sehe, fehlen mir bei ihr explizit ausgewiesene Phasen der Inkubation (nach der Kreativitätstheorie von Csíkszentmihályi), also nichtproduktive Phasen, in denen anscheinend nichts entsteht, aber Überlegungen und gesammelte Informationen miteinander reagieren. Ich nenne dieses Blubbern und Reifen Fermentierung, es ist ein unumgänglicher Bestandteil jedes schöpferischen Prozesses. Wem das nicht bewusst ist, wer also nicht akzeptiert, dass auch unproduktive Phasen zum Schreiben gehören, könnte das als Schreibblockade interpretieren und frustriert aufgeben. 3. Meiner Erfahrung nach läuft der Schreibprozess, wie andere kreative Prozesse auch, nicht linear, sondern in Schleifen, oder besser, in Spiralen ab. Vor allem bei längeren Texten, deren Rohfassung nicht in einem Ritt zu erstellen ist, findet m.E. nach ein permanentes Pendeln zwischen Sammeln, Fermentieren, Rohtexten und Überarbeiten statt. Welche Varianten die Schreibenden nutzen, ob sie ihren Text immer wieder neu verfassen, ob sie laufend überarbeiten oder sequenziell, hat der Germanist Hanspeter Ortner zusammengestellt und typisiert. 4. Zu jedem Schreibprozess gehört m.E. ein Fundament, das mehr oder weniger stark vorhanden sein kann und das beim Schreiben permanent abgerufen und aktualisiert wird. Das ist natürlich die Schreibroutine, aber auch Textsorten-Wissen, das durch Lesen erworben wurde. Nach jahrelanger und vielfältiger Lektüre entsteht ein Gefühl für Texte, ihren Aufbau und ihre Struktur, Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich heraus, zudem sind viele Leseerlebnisse mit der eigenen Biografie verknüpft und emotional geprägt. Dieses Konvulat aus Halbbewusstem, Wissen und diffusen Gefühlen prägen Produkt und Prozess. Bei wem dieses Fundament gut ausgebildet ist, wird intuitiv, aus dem Bauch heraus, Formen und Strukturen entwickeln und leichter damit spielen können. Schreibende jedoch, die wenig gelesen haben, müssen sich Wissen über die jeweilige Textform erarbeiten, darüber, wie der Text funktioniert und welche Mittel sie einsetzen können. Manchmal geht das im Nachhinein mühsam und kopfgesteuert - entsprechend sehen Prozess und Produkt aus. In einem solchen Fall könnte eine gute Planung auch den entdeckenden SchreiberInnen helfen. Nach all diesen Überlegungen reizt es mich, meinen eigenen Schreibprozess modellhaft zusammenzufassen. Demnächst wahrscheinlich mehr dazu. Interessant fände ich zudem, die Frage nach dem Warum zu stellen, der Motivation. Warum schreibe ich? Vielleicht will ich mein eigenes Lektüre-Gefühl verstärken, indem ich es schreibend selbst hervorbringe? Eine Art Rückkopplung herstellen? Ich finde, die Frage nach dem Zweck des Schreibens müsste neu diskutiert werden. Und das Lesen gehört unbedingt dazu. Literaturempfehlungen: Ulrike Scheuermann: Wer schreiben kann, macht Karriere. Verlag Linde, Wien, 2009 auch hier: Homepage von Ulrike Scheuermann Sandro Zanetti (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin, 2012 Hanspeter Ortner: Schreiben und Denken, Tübingen: Niemeyer 2000

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Montag, 16.03.2015 in Schreiben

  • Berauscht

    Texte, die ich im Suff geschrieben habe, konnte ich am nächsten Tag in die Tonne hauen. Ideen, die unter Alk unglaublich faszinierend waren, Zusammenhänge, die sich mir überraschend eröffnet hatten, konnte ich nüchtern nicht mehr nachzuvollziehen. Die Texte waren Ich-bezogen und nicht leserInnen-orientiert, sprangen in wilden Assoziationen, die in keinem (erkennbaren) Zusammenhang standen, ohne Struktur, ohne roten Faden.

    Dass Schreiben ein tranceartiger Zustand sein kann, habe ich an anderer Stelle schon beschrieben. Aber kann man den Schreib-Rausch verstärken und mit Alkohol oder anderen Drogen nachhelfen? In unserer Kultur hält sich hartnäckig die Vorstellung vom entgrenzten, rauschhaften Schreiben, bei dem gewisse – ähm – Substanzen alle inneren Schranken und Vorbehalte ausräumen und ein echter und wahrhaft kreativer Kern zum Vorschein kommt. Befreiung, völlige Loslösung bis zur Ekstase! Und waren Leute wie Hemingway, Rausch-Schreiber wie die französischen Surrealisten, Edgar Allan Poe, Jack London, Zecher wie Villon und Bellmann, Thomas De Quincey, waren das keine großen Dichter? Ich denke, diese Leute haben nicht gut geschrieben, weil sie Drogen genommen haben, sondern OBWOHL. Rausch bläst das Ego auf bis zum Popanz. Meine eigenen Erfahrungen aus meiner Jugendzeit (inzwischen trinke ich weder Alkohol noch nehme sonst Drogen): Texte, die ich im Suff geschrieben habe, konnte ich am nächsten Tag in die Tonne hauen. Ideen, die unter Alk unglaublich faszinierend waren, Kontexte, die sich mir überraschend eröffnet hatten, konnte ich nüchtern nicht mehr nachzuvollziehen. Die Texte waren Ich-bezogen und nicht leserInnen-orientiert, sprangen in wilden Assoziationen, die in keinem (erkennbaren) Zusammenhang standen, ohne Struktur, ohne roten Faden. Wär auch zu schön, wenn es so easy wäre: Der schüchterne Dichter (fast immer ein Mann), der sich mit einer Ladung Rotwein/Whisky/anderen Substanzen in seinem Arbeitszimmer einschließt und nach Tagen oder Wochen wieder zum Vorschein kommt, völlig übernächtigt und ausgebrannt, aber mit dem supergenialisten aller Texte in der Hand. Wunschtraum! Klischee-Alarm! Eine Form suchen, sich ausdrücken, und innere Widerstände und Selbstzweifel auflösen - unter Drogen scheint das gut zu funktionieren. Aber, hey, das ist ein Trugschluss. Denn der Berg wird größer, im Rausch spürt man ihn nur nicht mehr, aber er wächst und wächst, wenn man ihn nicht abträgt. Und schließlich kommt man überhaupt nicht mehr durch. Außerdem ist es viel spannender, den inneren Widerständen auf den Grund zu gehen und sie damit aufzulösen. Dauert länger, klar. Gibt aber auch wieder Stoff für's Schreiben, oder?

    veröffentlicht: Anke Engelmann, Montag, 16.03.2015 in Schreiben

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